Veranstaltungen und Theater sowieso bringen mit sich, dass sie flüchtig sind. Sobald es vorbei ist, ist alles verschwunden und es gibt keinerlei Zeugnisse mehr vom Geschehen. Mit und durch die Pandemie hat sich dies stark verändert: Die Theater dokumentieren ihre Inszenierungen inzwischen recht professionell zur Weiterverwertung im Stream, Veranstalter*innen zeichnen ihre Zoom-Konferenzen auf und posten sie auf YouTube und sowieso lässt sich auch die ganze öffentliche Kommunikation auf den Social Media-Kanälen noch minutiös nachverfolgen – Wochen und Monate später. Alles ist da.
Diese (Selbst-)Dokumentationswut, immer eng verbunden mit der Legitimation des eigenen Handelns, nimmt bisweilen groteske Züge an. Ich frage mich regelmäßig, wer eigentlich was für wen und in welcher Form festhält. Wie weit sollte ein Medium wie das Theater gehen im Sinne der ständigen Verfügbarmachung (und wie weit auch nicht?) und wie sehr braucht es – auch für den eigenen Outreach – zeitversetzte, dauerhaft abrufbare Angebote? Und, etwas rhetorisch gefragt: Wäre es nicht sinnvoll die Dinge voneinander zu trennen? Also: Einerseits ephemere Angebote schaffen, die auch bewusst als solche konzipiert sind, und andererseits fest installierte, andauernde Kunstformen oder Dokumentationen, für die die längere Abrufzeit zum Zeitpunkt ihrer Produktion mitgedacht wird.
Das Theater kann hier noch viel lernen, meine ich – auch im Sinne seiner eigenen Stärken und Schwächen. Eine der vielen schmerzhaften Lehren aus der Pandemie ist: Das Theater steht hier noch ganz am Anfang.
Ein, wie ich finde, guter und schöner Übersetzungsvorgang ist dem Literaturforum im Brecht-Haus gelungen. Im aktuellen „lfb Journal“ (Nr. 6, 2021) sind zwei der Projekte dokumentiert, die ich mit Unterstützung des Brecht-Hauses im letzten Jahr entwickeln durfte. Darin findet sich eine gekürzte Fassung von Armen Avanessians Eröffnungsvortrag der Konferenz „Postpandemisches Theater“ wieder. Dazu kommt eine schriftliche Fassung von Sivan Ben Yishais tollem Videoimpuls.
Ich bin sehr froh, dass sich das Brecht-Haus dazu entschieden hat die beiden Projekte so umfangreich in ihrer Publikation nochmal nachträglich zu präsentieren. Hier ein paar Fotos des gedruckten Journals und hier der Link zum digitalen Journal.
Ach, wenn es doch wahr wäre: Das postpandemische Theater liegt hinter mir. Das ist allerdings nicht der Fall, wir befinden uns mitten in der Zweiten Welle mit geschlossenen Sälen allerorten. Es liegt allenfalls insofern hinter mir, als dass die dreitägige Konferenz „Postpandemisches Theater“ mit Impulsen und Diskussionen, die vom Literaturforum im Brecht-Haus in Kooperation mit der Heinrich Böll-Stiftung vom 11.-13. November veranstaltet wurde, nun stattgefunden hat. Gemeinsam mit Sophie Diesselhorst und Christian Rakow von nachtkritik.de habe ich das Programm und die Veranstaltungstage organisiert.
Im Anschluss an den Text, den ich für den Netztheater-Band der Böll-Stiftung geschrieben habe, schien es mir dringend notwendig nicht nur über den aktuellen Zustand der Theaterlandschaft in der Pandemie zu reden und nachzudenken, sondern einen Schritt weiter zu gehen und die Frage danach zu stellen, was für ein Theater eigentlich (notgedrungenerweise) aus der Pandemie erwachsen kann, soll oder sogar muss. Ich suchte im September das Gespräch mit den Herausgeber*innen des Bandes – Christian Römer (Böll-Stiftung), Sophie Diesselhorst & Christian Rakow (nachtkritik.de) – und kontaktierte gleichzeitig Christian Hippe vom Literaturforum im Brecht-Haus, da ich mit ihm im Anschluss an die fünf kleinen Werk-Aufträge für 1000 Scores ohnehin noch eine Veranstaltung plante, die sich um künstlerische Praktiken in der Pandemie drehen sollte. Um der Komplexität und Größenordnung der Frage gerecht zu werden, wollte ich das Ganze nicht alleine kuratieren – das tue ich ohnehin eher ungern – und so kam es zu der glücklichen Fügung, dass Sophie und Christian Zeit und Lust hatten das Ganze mit mir gemeinsam auf die Beine zu stellen.
Nun ging es ans Texte Schreiben, Leute Anfragen und, wichtig, Titel Finden! Schon seit März schwirrte der Begriff „postpandemisches Theater“ durch einschlägige Texte und Twitter-Beiträge. Neben mir verwand ihn im Netztheater-Band etwa auch Friedrich Kirschner. Christiane Hütter, ebenfalls in der Redaktion für den Netztheater-Band, hatte ihn sogar schon im April mal ausführlich in einem Text auf Nachtkritik behandelt. Wir wählten diesen Begriff also für die Veranstaltungstage, weil er uns sehr anschaulich schien. Durch das (zugegebenermaßen etwas abgegriffene) Präfix „Post“ markierte er klar und deutlich, was die Denk- und Vorstellungsaufgabe für die drei Tage sein soll: In die Zukunft zu denken und zu spekulieren, wie diese für das Theater aussehen könnte, wenn wir die Gegenwart genau genug betrachten und analysieren.
Die Veranstaltungen fanden dann angesichts des „Lockdown Light“ online statt – es gab aktive und passive Teilnahmemöglichkeiten per Zoom (mit Chat und Nachgespräch) und YouTube (Stream). Ohne der Zweiten Welle und den im November in die Höhe schnellenden Infektionszahlen hätten wir die drei Tage ganz klassisch im kleinen, gemütlichen und räumlich äußerst begrenzten Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin verbracht. Es hätte – je nach Verordnungslage – maximal Platz für ca. 50 Leute gegeben. Wir haben uns aber schon früh dazu entschieden eine so genannte hybride Variante anzupeilen, durch die interessierte Menschen auch online der Veranstaltung beiwohnen können.
Die Resonanz überstieg unsere Erwartungen: Beim ersten Tag waren rund 500 Leute dabei. Am zweiten und dritten etwa 300. Und zwar zum großen Teil bis zum Ende der Gespräche. Es gab also Informations-, Gesprächs- und wahrscheinlich auch einen Versammlungsbedarf angesichts sämtlich geschlossener Veranstaltungsräume im deutschsprachigen Raum. Die Dringlichkeit die gegenwärtige und zukünftige Lage zu besprechen war von allen Seiten jederzeit spürbar. Diese Pandemie stellt alle physischen Begegnungsformen zur Disposition. Das bedeutet nicht nur: keine Konzerte, keine Parties und kein Theater. Es geht, so glaube ich, viel weiter: Wenn man an den Ursprung der westlichen Idee von Demokratie denkt, ist die Versammlung von Körpern in einem Raum gewissermaßen das Fundament der Demokratie (Stichwort „Polis“). Allerdings – und hier wird’s jetzt spannend – gibt es durch die technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte eine Entwicklung dahin, dass die politische Willensbildung zunehmend im Netz, und damit ohne physischer Kopräsenz, stattfindet. Sehr viele politische Bewegungen der jüngeren Vergangenheit, egal welcher politischen Couleur, haben ihren Ursprung im bzw. entwickeln ihre Kraft aus dem Netz, im Wesentlichen durch Social Media. Welche Kraft hat das gute, alte Theater (noch) in diesem Zusammenhang mit seiner etwas old-fashioned wirkenden Idee von Versammlung und physischer Kopräsenz? Befindet es sich in der Ablösung durch die Technologien und Logiken von Online-Plattformen? Oder – so wird ja meistens beschwichtigend von allen Netz-Enthusiast*innen hinzugefügt – sind die Möglichkeiten für Gemeinschaftsbildungen, die das Netz und seine Algorithmen bietet, lediglich als „Erweiterungen und Ergänzungen“ zu verstehen?
Der Philosoph Armen Avanessian griff diese Gedanken dankbarerweise gleich in seiner Keynote (ab 3:35) auf und schlug einen weiteren neuen Begriff vor, der mir sehr gut gefällt: Zukunftsgenössisch. Er forderte kein zeitgenössisches, sondern ein zukunftsgenössisches Theater und hob dabei einige Aufgaben hervor: Er schlug vor neue, alternative Präsenz-Konzepte für das Theater zu entwickeln. Das Theater als einen Ort zu denken, wo neue politische Sprecher*innen-Positionen entstehen oder einen Platz finden können – und zwar vor der Frage nach deren (von oben herab gedachten) „Partizipation“. Das Theater sei dafür prädestiniert diese notwendigen Veränderungen zu reflektieren, zu beeinflussen und auch zu steuern – alleine schon, weil es aus Selbstschutz im Sinne des eigenen institutionellen Überlebens dazu gezwungen ist. Ich sympathisiere mit seinen eröffnenden Überlegungen sehr und kann nur empfehlen sie sich mal in Ruhe anzuhören. Alle weiteren Gespräche und Impulse der drei Tage sind auf dem YouTube-Kanal des Literaturforum im Brecht-Haus zu finden.
In den kommenden Monaten werde ich weiter an den Fragen arbeiten, die auch Gegenstand der Konferenz waren. Aufbauend auf meinem Text „The Show Must Not Go On. Plädoyer für 1000 neue Theater“ habe ich vom Fonds Darstellenden Künste im Rahmen des #takecare-Programms eine Förderung für ein Recherchevorhaben erhalten, das ich passenderweise „1000 Theater“ genannt habe. Diese Förderung möchte ich dafür nutzen mit ca. zehn anderen Künstler*innen und potenziellen Zukunftsgenoss*innen in einen formalisierten Gesprächsprozess zu gehen, in dem ich ihnen die Frage nach den neuen Theatern stelle, die wir brauchen und die sie sich wünschen. Fragen nach neuen Architekturen, Versammlungsformen und Spielplänen, die einen Ausblick auf das Theater der Zukunft ermöglichen.
Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Im August und September habe ich einen Text für den Sammelband „Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen“ mit dem Titel „The Show Must Not Go On. Plädoyer für 1000 neue Theater“ verfasst. Der Band wird herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de in Zusammenarbeit mit weltuebergang.net. Die redaktione Leitung hatten Sophie Diesselhorst, Christiane Hütter, Christian Rakow und Christian Römer. Hier findet sich das gesamte PDF mit allen Beiträgen, u.a. von Frank Rieger, Friedrich Kirschner, Christiane Hütter und auch den Redakeur*innen .
Mangels Platz haben es zwei Fotos meines Artikels leider nicht in die finale Druckfassung des Bandes geschafft, zudem gab es leider ein Malheur im letzten Korrekturgang bei der Überschrift, deswegen poste ich hier nochmal den Artikel in der ursprünglichen Fassung (sorry für meine überschaubaren Layout-Fähigkeiten):
Mein letzter Beitrag hier stammt aus der Zeit, als die Corona-Pandemie in Deutschland richtig in Bewegung kam und der große Stillstand einsetzte, inklusive des Kunst- und Theaterbetriebs natürlich. Der unkontrollierten Verbreitung des Virus mussten wir mit maximaler Kontrolle des eigenen Alltags begegnen. Jeder Tag und jede Stunde fühlte sich irgendwann an wie in einem vorgegeben Stundenplan. Gut, dass sich dieser Zustand inzwischen geändert hat.
Testlauf für das Nachgespräch von „Chinchilla Arschloch, waswas“ beim Theatertreffen auf Jit.si
Dementsprechend verlagerte sich auch die eigene Arbeit: Durch die Absage des Theatertreffens konnte unser Stück „Chinchilla Arschloch, waswas“ nur in der Corona-kompatiblen Ersatz-Version des Festivals gestreamt werden. Das Nachgespräch danach auf Jit.si war gemessen an den ungewohnten Umständen ganz schön, weil es so wenigstens den Anflug einer Versammlung und eines Miteinanders gab, aber es war gleichzeitig auch unheimlich und geisterhaft. All die Menschen nur auf dem Bildschirm zu sehen, mit denen man normalerweise aus voller Überzeugung Theater macht, weil man an die Enge des Theaters und die besondere Konzentration so sehr glaubt. Weil man weiß, welche Kraft daraus entstehen kann. Da braucht es schon eine große, ja, Immersionsbereitschaft, um sich dieses Miteinander am Bildschirm im eigenen Wohnzimmer herbei zu imaginieren.
Mein Bildschirm während des Videostreams von „Chinchilla Arschloch, waswas“ beim Theatertreffen plus parallelem Nachtkritik-Live-Chat dazu (Sorry für die schlechte Foto-Qualität)
Wenige Wochen später war ich dann an zwei „Online-Events“ – ja, ein grausliges Wort, also sagen wir doch vielleicht: „Online-Formaten“? Hm. Auch allenfalls nur ein kleines wenig besser… Wie auch immer: Jedenfalls war ich an beiden Projekten unmittelbar beteiligt. In beiden Fällen ging es darum unter den Corona-Bedingungen trotzdem Theater zu machen, Performances zu ermöglichen, dem Virus zu trotzden. Das eine Projekt hieß „Pixelsinfonie“, eine Online-Installation von Michael Rauter, wo ich als Dramaturg mitarbeitete. Und das andere war der Launch der Webseite http://www.1000scores.com.
Seit fast zwei Jahren arbeitete ich mit Michael Rauter an seiner „Pixelsinfonie“ – einer Bearbeitung von Beethovens „Pastorale“, die wir in Ludwigsburg in den Zimmer des dortigen NH-Hotels installieren wollten. In jedem Zimmer ein*e Musiker*in, mit offenen Fenstern, alle Musiker*innen mit Kopfhörern verbunden. Der gemeinsame Klang des Orchesters wäre draußen, an der Fassade des Hotels, entstanden. Das Publikum wäre außerdem durch die Zimmer der Musiker*innen gewandelt.
Tja, wäre… Klar, das ging unter Corona-Bedingungen nicht. Wir versuchten das Stück umzubauen und die Isolation der Hotelzimmer umzumünzen auf die Isolation in der Pandemie. Jede*r Musiker*in wurde einzeln mit Kamera und Mikro aufgenommen. Im Schnitt legte Michael Rauter dann alle Videos in einem riesigen Grid nebeneinander und mischte die 30 Instrumente so ab, dass tatsächlich ein Orchester erklang. So entstand eine wundervolle, aber gleichzeitig auch absurde musikalische Situation, in der wir die räumliche Trennung der Musiker*innen durch ein klangliches Miteinander überwanden. Als Online-Installation lief das Stück dann eine Woche lang im Loop auf den holprigen Servern der Ludwigsburger Schlossfestspiele.
Gleichzeitig spürte ich aber nach diesen zwei videolastigen Streaming-Erfahrungen (Theatertreffen, Pixelsinfonie) deutlich, dass Videostreaming für mich kein adäquater Ersatz für das ist, was ich im Theater so schätze: Die Liveness, das Unvorhersehbare, das Überfordernde.
Ich grübelte einige Wochen rum und hatte dann eine Idee, die ich zunächst im Rahmen eines Workshops an der Hochschule für Populäre Künste ausprobierte: Wie und wo können wir neue Räume und neue Bühnen erschließen, ohne die ganze Zeit das defizitäre Gefühl des „Früher war alles besser“ mit uns herumzutragen? Für welches Experiment ist jetzt die richtige Zeit? Vielleicht sogar ohne Mundschutz, Abstand und Desinfektionsmittel…?
Ich entschied mich dazu mit den Studierenden an Performance Scores zu arbeiten. Also kleine instruktive Werke, die das Publikum, also die Leser*innenschaft, dazu auffordern etwas zu tun, zu performen. Von Marcel Duchamp über John Cage, Yoko Ono und die Fluxus-Bewegung, Hans Ulrich Obrists „do it“ bis zu Miranda Julys „Learning To Love You More“ gab es da schon viele großartige Dinge, die in verschiedensten künstlerischen Disziplinen ausprobiert wurden. Man könnte sogar von einer fest etablierten künstlerischen Praxis sprechen. Speziell, wenn man in die Musik guckt (Score wird auch oft mit Partitur übersetzt) oder im Tanz, wo der Score zum Grundhandwerkszeug fast jede*r Choreograph*in gehört.
Was passiert also, wenn diese Scores auf die aktuelle Situation zugeschnitten werden? Wenn Künstler*innen aus verschiedensten Disziplinen ihre eigene Praxis in Performance Scores überführen und ihre Kunst auf diesem Weg zu den Menschen nach Hause bringen? Wenn das Publikum selber zur Performer*in werden kann bzw. jetzt sogar werden muss, da sämtliche Theater, Konzertsäle und Museen geschlossen sind? Und zu guter letzt: Was, wenn wir Performance Scores digital denken, in Form von Codes, Algorithmen oder Games und damit nicht mehr nur statisch in Schrift und Bild wie bei Obrist oder im Fluxus? Keine Ahnung, dachte ich mir. Ausprobieren.
So legte ich mit den Studierenden los und merkte schon vor dem ersten Workshop: Dazu will ich ein Projekt machen.
Sehr spontan und ohne einem Euro Projektgeld fragte ich eines Abends David Helbich, Kumpel und Künstler aus Brüssel, der schon lange und viel mit Performance Scores arbeitet, und meine geschätzte Rimini-Kollegin Helgard Haug, ob wir nicht zu dritt daraus ein Projekt basteln wollen. Erste Idee: Einfach ein Blog, wir fragen ein paar Leute nach Beiträgen, no budget, ganz easy so nebenbei. Die beiden hatten sofort Lust und wir legten los. Und wie das dann manchmal so ist: Nix da nebenbei. Das Projekt wuchs und wuchs von Tag zu Tag, von Ende April bis jetzt, und höchstwahrscheinlich wird es mein bisher arbeitsintensivstes Projekt aller Zeiten. Es heißt 1000 Scores, der Launch der Website war Mitte Juni und es ist hier zu finden: http://www.1000scores.com. Wir haben mit PACT Zollverein, Tanz im August, dem Goethe Institut und dem Kanal – Centre Pompidou vier super Koproduzenten und zahlreiche weitere Partner-Institutionen, die die Beauftragung vieler neuer Scores sicherstellen. Stand heute sind 14 Scores auf der Seite von Künstler*innen wie Tim Etchells, Johannes Paul Raether, Ryoko Akama, Annie Dorsen, Tabita Rezaire, Neo Hülcker, Samson Young und RYBN. Es werden mindestens noch 50 folgen. Wir sind zuversichtlich und hoffen, dass es noch mehr werden.
Wenn „Social Distancing“ gefragt ist, steht’s schlecht ums Theater. Jedenfalls um das Theater, wie wir es kennen oder gewohnt sind. Premieren werden abgesagt, Festivals verschoben, sämtliche Kunstinstitutionen setzen ihren Betrieb bis auf Weiteres aus. „Vorläufig bis 19.4.“ heißt es in offiziellen Verlautbarungen. Das ist mehr als ein Monat, wo Millionen von Besucher*innen auf Kunst und Kultur verzichten müssen. Und die Vermutung liegt nah, dass noch weitere Wochen, vielleicht Monate, hinzukommen werden.
Diverse Online-Plattformen wie Nachtkritik streamen aktuelle und ältere (aufgezeichnete) Theateraufführungen und alle durchwühlen nochmal ihre Website-Archive und externen Festplatten nach Materialien, die man sich irgendwie auf dem Computer angucken kann, um nicht bereits nach wenigen Tagen abzustumpfen.
So ähnlich läuft das bei mir auch ab. Die Hochschulen, bei denen ich in den kommenden Monate Lehraufträge habe, schicken mehrmals täglich Emails mit der Aufforderung die Lehre nun, na klar, bitte online durchzuführen. Premieren wackeln, weil Proben mit „Social Distancing“, im wahrsten Sinne des Wortes, leider nicht in Hand in Hand gehen. Festivals melden an, dass man sich schon mal auf die Möglichkeit der Absage des Gastspiels einstellen solle. Bleibt nicht mehr viel übrig vom Theateralltag. Schöne Scheisse.
Als die Pandemie vor einigen Tagen im eigenen Alltag ankam, mehr und mehr von Quarantäne die Rede war und #socialdistancing die Losung der Stunde wurde, musste ich an die „Schule der Distanz“ denken. Ein thematisches Wochenende mit Performances und Vorträgen, das ich 2016 im Rahmen der Immersion-Reihe der Berliner Festspiele im Martin Gropius Bau kuratiert habe. Für einige Menschen war der Titel der Veranstaltung damals schwer verständlich. Speziell im Zusammenhang mit dem ambivalenten Buzzword Immersion fragten mich Leute, was das nun alles mit einer „Schule“ zu tun habe und wieso überhaupt „Distanz“. Bisweilen schwer verdaulich, vielleicht auch kompliziert, wirkte das Unterfangen.
Manchmal passiert es, dass die eigentliche Qualität von Projekten sich erst ein paar Jahre später entfaltet. Weil sich die Welt in eine bestimmte Richtung dreht und auf einmal neue Perspektiven und damit neue Begriffe unser Leben bestimmen.
Denn: Auf einmal erhalten wir Anweisungen darüber, wie nah wir anderen Menschen (noch) kommen dürfen. Unser räumliches Verhältnis zueinander wird neu vermessen, wenn es darum geht die Verbreitung des Virus‘ zu verhindern. Wir müssen uns in Distanz üben. Ist zu viel Nähe entstanden…? Können wir dem nur durch die Disziplinierung unserer Körper begegnen?
Um genau diese Frage habe ich mich mit den beteiligten Künstler*innen der „Schule der Distanz“ damals gedreht. Das Ganze im Zeichen der Immersion, also Aufführungstechniken und -technologien, die es darauf anlegen gewohnte Grenzen aufzulösen und einem näher zu kommen, als man es gewohnt ist.
Fast jede der Arbeiten, die im Rahmen der „Schule der Distanz“ entstanden sind, wäre es heute Wert neu installiert bzw. aufgeführt zu werden. Am eindrücklichsten kommt mir in diesen Tagen Annika Kahrs‘ musikalische Performance „Alone Together“ wieder in die Erinnerung: Vier Musiker*innen singen Arthur Schwartz‘ traurig-schönen Hit aus dem Jahr 1932 – gemeinsam, rhythmisch, nebeneinander stehend. Nachdem sie dies einmal getan haben, verlassen sie ihre Formation samt Mikrofonen und vereinzeln sich. In halber Geschwindigkeit singen sie das Lied erneut, setzen gemeinsam ein, verlieren sich bisweilen rhythmisch, ohne Sichtkontakt. Dieses Prozedere wiederholen sie mehrmals bis das Lied zur Unkenntlichkeit verlangsamt durch den Raum raunt, keine Wörter sind mehr zu verstehen, aber irgendwie tun sie’s doch zusammen, das Musizieren. Oder zumindest versuchen sie es.
Dieser verzweifelt-vergebliche Versuch des Miteinanders, wenn man sich räumlich schon längst verloren hat und in Isolation wähnt, ermöglicht nun den Blick auf einen Alltag in Quarantäne. Jede*r ist für sich alleine, alle tun das Gleiche, irgendwie gleichzeitig.
Hier finden sich noch einige diskursive Beiträge aus dem Programm.
Die beitragenden Wissenschaftler*innen und Künstler*innen waren:
Ed Atkins
Omer Fast
Oliver Grau
Christiane Heibach
David Helbich
Finn Johannsen
Alexis Le-Tan
Gwen Jamois
Annika Kahrs
Doris Kolesch
Shintaro Miyazaki
Phuong Dan
Studierende der Universität Hildesheim mit Eike Wittrock
Vor wenigen Tagen machte der Künstler Simon Weckert eine künstlerische Intervention im Netz öffentlich, für die er verantwortlich zeichnete. In einem kleinem, quietschenden Bollerwagen zog er 99 angeschaltete und mit SIM-Karten ausgestattete Smartphones durch die Straßen Berlins. Das konnte er mitten auf der Straße tun; ganz in Ruhe und ungestört, da weit und breit ken Auto fuhr. Was zunächst wie ein technisch-esoterisches Ritual oder allenfalls wie ein Dérive klingt, ist beim genauen Hinschauen ein spektakuläres Ereignis: Weckert setzte im Handumdrehen Google Maps und damit den Berliner Stadtverkehr außer Kraft. Wie? Googles Stauprognosen basieren auf einer ziemlich banalen Annahme: Wenn sich viele Handys auf wenig Raum auf einer Straße befinden und sich nur sehr langsam fortbewegen – all das kann Google bekanntlich tracken – nimmt das Programm an, dort befände sich ein Stau. Diese Prognose wird unmittelbar in den Dienst eingespielt, was zur Folge hat, dass sich die Routenempfehlungen Googles ändern: Das Geo-Tool empfiehlt den Stau zu umfahren. Die Folge: Um Simon Weckert herum herrschte Ruhe – leere Straßen und ein quietschender Bollerwagen. Ein paar Radfahrer*innen und Spaziergänger*innen und hier und da ein fahrendes Auto, das offensichtlich nicht entlang der Google-Routen fuhr. Als würde die Zeit stillstehen.
Weckert Aktion ist künstlerisch ein großartiger Coup: Mit einfachsten Mitteln setzte er das größte, die Welt umspannende Netzwerk außer Kraft. Ein spektakulärer Eingriff in unserer digitale Lebenswelt, die an Arbeiten der letzten Jahre von Künstler*innen wie !Mediengruppe Bitnik, dem Peng Kollektiv oder Aram Bartholl erinnert. Viele Begriffe wurden erfunden, um solche künstlerischen Praktiken zu beschreiben: Ein Hack wäre wohl die passendste Beschreibung. Etwas militaristischer könnte man auch von einer Intervention sprechen.
Was Weckert mit seinen „Google Maps Hacks“ tut, hat in der Kunst und auch im Theater Tradition. Durch Eingriffe in bestehende Systeme befragen Künstler*innen seit mindestens 100 Jahren, wie die Welt organisiert ist, die uns umgibt: Wer gestaltet unsere Kommunikation, unsere Bewegung und die Räume, die wir tagtäglich nutzen? Wer erschafft und kontrolliert diese Systeme und inwiefern orientiert sich ihre Gestaltung an den Bedürfnissen ihrer Nutzer*innen? Verstehen wir die Welt, die uns umgibt, überhaupt noch?
Am Montag, 10. Februar, beginnen die Brecht-Tage im Literaturforum im Brecht-Haus. Sie stehen dieses Jahr unter dem Titel „Brecht und das Theater der Intervention„. Bis Freitag finden täglich Gespräche, Vorträge und Diskussionen statt, die mit Blick auf Brechts interventionistische Methodik nach dem Stellenwert künstlerischer Eingriffe im Kontext des Theaters und der Performance-Kunst fragen.
Am ersten Tag geht es um Brechts Texte zur Intervention, zu Gast sind Margarita Tsomou und Matthias Warstat, Moderation Christian Rakow.
Am Dienstag diskutieren Florian Malzacher und Bernd Stegemann die Frage „Wie kann Theater heute interventieren?“, moderiert von Christine Wahl.
Der Mittwoch wird eröffnet von der Wiener Künstler*innnengruppe WochenKlausur – Martina Reuter und Wolfgang Zinggl stellen einige ihrer Projekte vor. Im Anschluss diskutieren Martina Reuter, Bernd Ruping und Julius Heinicke fragen am Donnerstag, ob Kunst Missstände beheben kann. Moderiert wird der Abend von Marianne Streisand.
Aram Bartholl wird am 13.2. einen „Dead Drop“ in unmittelbarer Nähe des Brecht-Hauses installieren. Anschließend spreche ich mit Bartholl und Helgard Haug von Rimini Protokoll über die kleinen und vermeintlich unauffälligen Interventionen – wie etwa die von Simon Weckert.
Und am abschließenden Freitag gibt es nochmal einen weitgreifenden Überblick über diverse Vorschungsvorhaben zur Thematik, u.a. mit Eva Renvert, Anja Klöck, Michael Wehren, Matthias Rothe, Anja Quickert, Carolin Sibilak, Katharina Kolar und Claudia Hummel.
Hier finden sich sämtliche Informationen zum Programm, das ich gemeinsam mit meinen Kolleg*innen Christian Hippe, Volker Issbrücker und Marianne Streisand entwickelt habe.
Heute wurde es bekannt gegeben, die Freude ist groß:
Unser Frankfurter Stück „Chinchilla Arschloch, waswas“ wurde von der Jury zum Theatertreffen eingeladen. Die vier Vorstellungen finden Mitte Mai im HAU2 statt.
Vielen Dank für die besondere Auszeichnung. Übrigens mein zweites Theatertreffen-Stück, meine Premiere war 2013, auch mit Rimini Protokoll, und „Situation Rooms“.
Jüngst musste ich feststellen, dass ich mittlerweile ein Alter erreicht habe, wo Arbeiten, an denen ich beteiligt war, als „Klassiker“ bezeichnet werden. Wenn ich selber Klassiker sage – übrigens lustigerweise im Theater ein erstaunlich häufig vorkommender Begriff – meine ich in der Regel Stücke von Shakespeare oder Schiller. Aber gut, so ist das halt, wenn man älter wird. Kann man vielleicht ja auch stolz darauf sein. Jedenfalls: „100% Berlin“ von Rimini Protokoll wird inzwischen als so ein Klassiker bezeichnet. Und obwohl das Stück inzwischen zwölf Jahre alt ist, passiert grad nochmal was ziemlich Besonderes damit.
Für die Dauer der Aufführung stehen 100 Menschen auf der Bühne, die gemeinsam diese Kriterien erfüllen. Eine temporäre Vertretung der Stadt.
2008 wurde das Hebbel-Theater (HAU1) 100 Jahre alt. Also auch da gab es bereits diesen feierlichen Jubiläumskontext. In den letzten zwölf Jahren entwickelte sich „100%“ zum wahrscheinlich erfolgreichsten Rimini-Stück. Weltweit haben bereits 38 stadtspezifische 100%-Versionen stattgefunden, aktuell entsteht eine in Hongkong.
Nun legen wir dieses Stück neu auf und schnell ergaben sich daraus im vergangenen Sommer mehrere interessante Fragen. Etwa: Wer von den damaligen 100 wird nochmal mitmachen? Wen erreichen wir überhaupt? Wer ist noch in der Stadt? Wer ist gestorben, wer neu auf die Welt gekommen? Und überhaupt: Was ist in Berlin in den letzten zwölf Jahren passiert? Und wenn man schon bei den ganz großen Fragen ist, warum nicht gleich: Was ist in der Welt in den letzten zwölf Jahren passiert?
Mit all diesen Überlegungen machte ich mich mit meiner Kollegin Lisa Homburger an die Arbeit: Wir riefen alle 100 an. Von riesig großer Freude, über totale Verwunderung und größere Erinnerungslücken bis zu „Bitte was willst Du?“ und „Nee, lass mich in Ruhe“ gab es eigentlich alle erwartbaren Reaktionen. Aber das Tollste und Wichtigste: Ziemlich viel Freude über den Anruf und das neue, alte Vorhaben. 42 der 100 Alten sind wieder dabei, wenn am 9.1. (meinem Geburtstag!) die Premiere von „100% Berlin reloaded“ im HAU 1 stattfindet (Karten schnell bestellen, wird wahrscheinlich bald ausverkauft sein).
Ach, wir haben übrigens erst 99 der 100 zusammen: Kennst Du einen Spandauer, deutsch, über 75 Jahre alt, der vielleicht Lust hätte mitzumachen? Das wäre toll. Meld Dich dann bitte bei mir.
Im September gastierten wir mit „Chinchilla Arschloch, waswas“ beim Grenzenlos Kultur-Festival am Staatstheater Mainz. Vor zweimal ausverkauftem Haus (ca. 400 Plätze) hatten wir bei stehenden Ovationen super Vorstellungen. Der Weg dahin war aber ziemlich steinig: Das Auto von Christian Hempel, einem der Hauptdarsteller unseres Stücks, ist gleich am ersten Probentag sein VW-Bus kaputt gegangen. Das klingt zunächst banal, hatte für uns aber weitreichende Konsequenzen, denn die Voraussetzung dafür, dass Christian überhaupt Theater machen kann, ist das Auto. Es ist speziell nach seinen Bedürfnissen eingerichtet und entlang seiner Tics präpariert, sodass er und der/die FahrerIn (in der Regel sein Frend Stephan Schliephake, der auch mit auf der Bühne steht) ungestört und sicher reisen können. Extra verglaste Fenster, eine Scheibe zwischen Vorder- und Hinterbank, angenehme Polsterung usw.… Nun hatte es aber die Lichtanlage erwischt. Der Bus fuhr noch, aber eben ohne Licht. Der VW musste in die Werkstatt und das war ein Problem mit Tragweite. Christian kann wegen seiner Tics nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Kein Zug, kein Bus und Flugzeug schon gar nicht. Also dachten wir uns: Ein Leihwagen muss her! Aber: Der muss nach heftigen Tics und Umbau heil bleiben. Und wir müssen ihn auspolstern, damit er für Christian benutzbar wird. Gesagt, getan. Stephan besorgte in Windeseile ein super Ersatz-Auto, die Techniker*innen des Mousonturms, wo Christian und Stephan untergebracht waren, präparierten es über Nacht, sodass die beiden überhaupt nach Mainz kommen konnten. Zugegeben: Nach dem Umbau ähnelte der Bus einem Käfig, aber Christian waren die Sicherheitsmaßnahmen sehr wichtig und ohne seiner Zustimmung wäre eine Fahrt nicht möglich gewesen.
Das Inspizientenpult in Mainz
Die Proben liefen dann wunderbar und Dank einer super Werkstatt in Frankfurt war Christians Bus überraschenderweise schon am nächsten Tag wieder einsatzbereit. Die Premiere konnte kommen.
Übrigens war Christian neulich bei dem unfassbar erfolgreichen YouTube-Channel „Gewitter im Kopf“ von Jan Zimmermann zu Gast. Jan und Tim haben ihn in Lüneburg besucht. Hier der Link (500.000 Views!!): https://www.youtube.com/watch?v=fUekFqhWUKM
Im nächsten Post gebe ich mal wieder einen Überblick, an welchen Projekten ich grad arbeite. Gerade viel Vorbereitung, dann drei große Premieren und ein kleines mitkuratiertes Programm im ersten Halbjahr 2020… Puh.
Nach Frankfurt ist vor Berlin: Die vorerst letzte Vorstellung von „Chinchilla Arschloch, waswas“ im Bockenheimer Depot hat am 12. Mai stattgefunden, jetzt laufen die Vorbereitungen für das erste Gastspiel. Vom 5.-7. Juni läuft unser Stück im HAU 2 und wir freuen uns alle schon sehr auf das „Heimspiel“.
Überhaupt muss man sagen, dass die ganze Produktion eine große Freude war. Klar, die Latte hing hoch, denn wie wir überhaupt ein Theaterstück mit Menschen auf die Beine stellen, die Tourette haben und sich deswegen, im wahrsten Sinne des Wortes, mit Händen und Füßen gegen das Theater wehren, war uns bis zum Probenbeginn eigentlich nicht klar. Nicht nur wir hatten großen Respekt vor der manchmal unlösbar scheinenden Aufgabe, auch den DarstellerInnen ging es so.
Man muss ehrlicherweise aber hinzufügen: Wir waren gut vorbereitet. Helgard und ich haben für Rimini-Verhältnisse ein ziemlich reifes Skript am ersten Probentag vorgelegt, das wir ideenmäßig über den Winter entwickelt hatten. Und auf einmal schien alles recht klar. Schnell wussten alle, was zu tun ist, was wir gemeinsam erzählen und zeigen wollen. Wir haben die Entstehung und Bedingungen des gemeinsamen Theatermachens zum Stück erklärt und somit ist „Chinchilla Arschloch, waswas“ eine Art Auto-Dokumentation geworden. Und nebenbei die für mich rundeste und konsequenteste Rimini-Arbeit, an der ich bisher beteiligt war. Tollerweise ging das vielen anderen Besucher*innen und Fachleuten ähnlich: Die FAZ fand das Stück „urkomisch und gescheit“, Nachtkritik stellte erfreut fest, dass die Darsteller „zunehmend die Kontrolle über den Abend“ übernehmen, Deutschlandfunk konstatierte sogar die Inszenierung feiere „das Wunderwerk Mensch“.
Noch gibt es ein paar Restkarten für die drei Vorstellungen am HAU. Weitere Gastspiele sind in Planung. To be announced!