Die neuen Normalitäten

Mein letzter Beitrag hier stammt aus der Zeit, als die Corona-Pandemie in Deutschland richtig in Bewegung kam und der große Stillstand einsetzte, inklusive des Kunst- und Theaterbetriebs natürlich. Der unkontrollierten Verbreitung des Virus mussten wir mit maximaler Kontrolle des eigenen Alltags begegnen. Jeder Tag und jede Stunde fühlte sich irgendwann an wie in einem vorgegeben Stundenplan. Gut, dass sich dieser Zustand inzwischen geändert hat.

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Testlauf für das Nachgespräch von „Chinchilla Arschloch, waswas“ beim Theatertreffen auf Jit.si

Dementsprechend verlagerte sich auch die eigene Arbeit: Durch die Absage des Theatertreffens konnte unser Stück „Chinchilla Arschloch, waswas“ nur in der Corona-kompatiblen Ersatz-Version des Festivals gestreamt werden. Das Nachgespräch danach auf Jit.si war gemessen an den ungewohnten Umständen ganz schön, weil es so wenigstens den Anflug einer Versammlung und eines Miteinanders gab, aber es war gleichzeitig auch unheimlich und geisterhaft. All die Menschen nur auf dem Bildschirm zu sehen, mit denen man normalerweise aus voller Überzeugung Theater macht, weil man an die Enge des Theaters und die besondere Konzentration so sehr glaubt. Weil man weiß, welche Kraft daraus entstehen kann. Da braucht es schon eine große, ja, Immersionsbereitschaft, um sich dieses Miteinander am Bildschirm im eigenen Wohnzimmer herbei zu imaginieren.

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Mein Bildschirm während des Videostreams von „Chinchilla Arschloch, waswas“ beim Theatertreffen plus parallelem Nachtkritik-Live-Chat dazu (Sorry für die schlechte Foto-Qualität)

Wenige Wochen später war ich dann an zwei „Online-Events“ – ja, ein grausliges Wort, also sagen wir doch vielleicht: „Online-Formaten“? Hm. Auch allenfalls nur ein kleines wenig besser… Wie auch immer: Jedenfalls war ich an beiden Projekten unmittelbar beteiligt. In beiden Fällen ging es darum unter den Corona-Bedingungen trotzdem Theater zu machen, Performances zu ermöglichen, dem Virus zu trotzden. Das eine Projekt hieß „Pixelsinfonie“, eine Online-Installation von Michael Rauter, wo ich als Dramaturg mitarbeitete. Und das andere war der Launch der Webseite http://www.1000scores.com.

Seit fast zwei Jahren arbeitete ich mit Michael Rauter an seiner „Pixelsinfonie“ – einer Bearbeitung von Beethovens „Pastorale“, die wir in Ludwigsburg in den Zimmer des dortigen NH-Hotels installieren wollten. In jedem Zimmer ein*e Musiker*in, mit offenen Fenstern, alle Musiker*innen mit Kopfhörern verbunden. Der gemeinsame Klang des Orchesters wäre draußen, an der Fassade des Hotels, entstanden. Das Publikum wäre außerdem durch die Zimmer der Musiker*innen gewandelt.
Tja, wäre… Klar, das ging unter Corona-Bedingungen nicht. Wir versuchten das Stück umzubauen und die Isolation der Hotelzimmer umzumünzen auf die Isolation in der Pandemie. Jede*r Musiker*in wurde einzeln mit Kamera und Mikro aufgenommen. Im Schnitt legte Michael Rauter dann alle Videos in einem riesigen Grid nebeneinander und mischte die 30 Instrumente so ab, dass tatsächlich ein Orchester erklang. So entstand eine wundervolle, aber gleichzeitig auch absurde musikalische Situation, in der wir die räumliche Trennung der Musiker*innen durch ein klangliches Miteinander überwanden. Als Online-Installation lief das Stück dann eine Woche lang im Loop auf den holprigen Servern der Ludwigsburger Schlossfestspiele.

Gleichzeitig spürte ich aber nach diesen zwei videolastigen Streaming-Erfahrungen (Theatertreffen, Pixelsinfonie) deutlich, dass Videostreaming für mich kein adäquater Ersatz für das ist, was ich im Theater so schätze: Die Liveness, das Unvorhersehbare, das Überfordernde.
Ich grübelte einige Wochen rum und hatte dann eine Idee, die ich zunächst im Rahmen eines Workshops an der Hochschule für Populäre Künste ausprobierte: Wie und wo können wir neue Räume und neue Bühnen erschließen, ohne die ganze Zeit das defizitäre Gefühl des „Früher war alles besser“ mit uns herumzutragen? Für welches Experiment ist jetzt die richtige Zeit? Vielleicht sogar ohne Mundschutz, Abstand und Desinfektionsmittel…?
Ich entschied mich dazu mit den Studierenden an Performance Scores zu arbeiten. Also kleine instruktive Werke, die das Publikum, also die Leser*innenschaft, dazu auffordern etwas zu tun, zu performen. Von Marcel Duchamp über John Cage, Yoko Ono und die Fluxus-Bewegung,  Hans Ulrich Obrists „do it“ bis zu Miranda Julys „Learning To Love You More“ gab es da schon viele großartige Dinge, die in verschiedensten künstlerischen Disziplinen ausprobiert wurden. Man könnte sogar von einer fest etablierten künstlerischen Praxis sprechen. Speziell, wenn man in die Musik guckt (Score wird auch oft mit Partitur übersetzt) oder im Tanz, wo der Score zum Grundhandwerkszeug fast jede*r Choreograph*in gehört.
Was passiert also, wenn diese Scores auf die aktuelle Situation zugeschnitten werden? Wenn Künstler*innen aus verschiedensten Disziplinen ihre eigene Praxis in Performance Scores überführen und ihre Kunst auf diesem Weg zu den Menschen nach Hause bringen? Wenn das Publikum selber zur Performer*in werden kann bzw. jetzt sogar werden muss, da sämtliche Theater, Konzertsäle und Museen geschlossen sind? Und zu guter letzt: Was, wenn wir Performance Scores digital denken, in Form von Codes, Algorithmen oder Games und damit nicht mehr nur statisch in Schrift und Bild wie bei Obrist oder im Fluxus? Keine Ahnung, dachte ich mir. Ausprobieren.
So legte ich mit den Studierenden los und merkte schon vor dem ersten Workshop: Dazu will ich ein Projekt machen.

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Sehr spontan und ohne einem Euro Projektgeld fragte ich eines Abends David Helbich, Kumpel und Künstler aus Brüssel, der schon lange und viel mit Performance Scores arbeitet, und meine geschätzte Rimini-Kollegin Helgard Haug, ob wir nicht zu dritt daraus ein Projekt basteln wollen. Erste Idee: Einfach ein Blog, wir fragen ein paar Leute nach Beiträgen, no budget, ganz easy so nebenbei. Die beiden hatten sofort Lust und wir legten los. Und wie das dann manchmal so ist: Nix da nebenbei. Das Projekt wuchs und wuchs von Tag zu Tag, von Ende April bis jetzt, und höchstwahrscheinlich wird es mein bisher arbeitsintensivstes Projekt aller Zeiten. Es heißt 1000 Scores, der Launch der Website war Mitte Juni und es ist hier zu finden: http://www.1000scores.com. Wir haben mit PACT Zollverein, Tanz im August, dem Goethe Institut und dem Kanal – Centre Pompidou vier super Koproduzenten und zahlreiche weitere Partner-Institutionen, die die Beauftragung vieler neuer Scores sicherstellen. Stand heute sind 14 Scores auf der Seite von Künstler*innen wie Tim Etchells, Johannes Paul Raether, Ryoko Akama, Annie Dorsen, Tabita Rezaire, Neo Hülcker, Samson Young und RYBN. Es werden mindestens noch 50 folgen. Wir sind zuversichtlich und hoffen, dass es noch mehr werden.

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