Schule der Distanz

Wenn „Social Distancing“ gefragt ist, steht’s schlecht ums Theater. Jedenfalls um das Theater, wie wir es kennen oder gewohnt sind. Premieren werden abgesagt, Festivals verschoben, sämtliche Kunstinstitutionen setzen ihren Betrieb bis auf Weiteres aus. „Vorläufig bis 19.4.“ heißt es in offiziellen Verlautbarungen. Das ist mehr als ein Monat, wo Millionen von Besucher*innen auf Kunst und Kultur verzichten müssen. Und die Vermutung liegt nah, dass noch weitere Wochen, vielleicht Monate, hinzukommen werden.

Diverse Online-Plattformen wie Nachtkritik streamen aktuelle und ältere (aufgezeichnete) Theateraufführungen und alle durchwühlen nochmal ihre Website-Archive und externen Festplatten nach Materialien, die man sich irgendwie auf dem Computer angucken kann, um nicht bereits nach wenigen Tagen abzustumpfen.

So ähnlich läuft das bei mir auch ab. Die Hochschulen, bei denen ich in den kommenden Monate Lehraufträge habe, schicken mehrmals täglich Emails mit der Aufforderung die Lehre nun, na klar, bitte online durchzuführen. Premieren wackeln, weil Proben mit „Social Distancing“, im wahrsten Sinne des Wortes, leider nicht in Hand in Hand gehen. Festivals melden an, dass man sich schon mal auf die Möglichkeit der Absage des Gastspiels einstellen solle. Bleibt nicht mehr viel übrig vom Theateralltag. Schöne Scheisse.

Als die Pandemie vor einigen Tagen im eigenen Alltag ankam, mehr und mehr von Quarantäne die Rede war und #socialdistancing die Losung der Stunde wurde, musste ich an die „Schule der Distanz“ denken. Ein thematisches Wochenende mit Performances und Vorträgen, das ich 2016 im Rahmen der Immersion-Reihe der Berliner Festspiele im Martin Gropius Bau kuratiert habe. Für einige Menschen war der Titel der Veranstaltung damals schwer verständlich. Speziell im Zusammenhang mit dem ambivalenten Buzzword Immersion fragten mich Leute, was das nun alles mit einer „Schule“ zu tun habe und wieso überhaupt „Distanz“. Bisweilen schwer verdaulich, vielleicht auch kompliziert, wirkte das Unterfangen.

Manchmal passiert es, dass die eigentliche Qualität von Projekten sich erst ein paar Jahre später entfaltet. Weil sich die Welt in eine bestimmte Richtung dreht und auf einmal neue Perspektiven und damit neue Begriffe unser Leben bestimmen.

Denn: Auf einmal erhalten wir Anweisungen darüber, wie nah wir anderen Menschen (noch) kommen dürfen. Unser räumliches Verhältnis zueinander wird neu vermessen, wenn es darum geht die Verbreitung des Virus‘ zu verhindern. Wir müssen uns in Distanz üben. Ist zu viel Nähe entstanden…? Können wir dem nur durch die Disziplinierung unserer Körper begegnen?

Um genau diese Frage habe ich mich mit den beteiligten Künstler*innen der „Schule der Distanz“ damals gedreht. Das Ganze im Zeichen der Immersion, also Aufführungstechniken und -technologien, die es darauf anlegen gewohnte Grenzen aufzulösen und einem näher zu kommen, als man es gewohnt ist.

SCHULE DER DISTANZ - Martin Gropius Bau

Fast jede der Arbeiten, die im Rahmen der „Schule der Distanz“ entstanden sind, wäre es heute Wert neu installiert bzw. aufgeführt zu werden. Am eindrücklichsten kommt mir in diesen Tagen Annika Kahrs‘ musikalische Performance „Alone Together“ wieder in die Erinnerung: Vier Musiker*innen singen Arthur Schwartz‘ traurig-schönen Hit aus dem Jahr 1932 – gemeinsam, rhythmisch, nebeneinander stehend. Nachdem sie dies einmal getan haben, verlassen sie ihre Formation samt Mikrofonen und vereinzeln sich. In halber Geschwindigkeit singen sie das Lied erneut, setzen gemeinsam ein, verlieren sich bisweilen rhythmisch, ohne Sichtkontakt. Dieses Prozedere wiederholen sie mehrmals bis das Lied zur Unkenntlichkeit verlangsamt durch den Raum raunt, keine Wörter sind mehr zu verstehen, aber irgendwie tun sie’s doch zusammen, das Musizieren. Oder zumindest versuchen sie es.

SCHULE DER DISTANZ - Martin Gropius Bau

Dieser verzweifelt-vergebliche Versuch des Miteinanders, wenn man sich räumlich schon längst verloren hat und in Isolation wähnt, ermöglicht nun den Blick auf einen Alltag in Quarantäne. Jede*r ist für sich alleine, alle tun das Gleiche, irgendwie gleichzeitig.

 

 

Hier finden sich noch einige diskursive Beiträge aus dem Programm.

Die beitragenden Wissenschaftler*innen und Künstler*innen waren:

Ed Atkins

Omer Fast

Oliver Grau

Christiane Heibach

David Helbich

Finn Johannsen

Alexis Le-Tan

Gwen Jamois

Annika Kahrs

Doris Kolesch

Shintaro Miyazaki

Phuong Dan

Studierende der Universität Hildesheim mit Eike Wittrock

Mirjam Schaub

David Weber-Krebs

Stefanie Wenner